Leere Bühne. Sieben Stühle im Halbkreis. Auf dem mittleren liegt eine Handtasche. Zügiger Auftritt von sieben Seniorinnen, unterschiedlich schwarz weiß gekleidet. Sie legen bunte Tücher und Basecaps ab und formieren sich etwa einen Meter hinter den Stühlen mit dem Rücken zum Publikum. Den Blick in die Ferne gerichtet... Rückschau auf ein gelebtes Leben?
Couragiert starten sie sehr gegenwärtig in Richtung Bühnenrampe, nehmen Kontakt zum Publikum auf und kündigen einzeln oder chorisch ihr Projekt an. Schnell wird klar, sie haben etwas zu sagen, mit großem Mitteilungsbedürfnis und kaum zu bremsender Spielfreude. Jede Seniorin in ihrer Besonderheit, mit ihrem eigenen Temperament. Spannungsvoll hören sie einander zu, reagieren aus dem Moment heraus und gehen vorzüglich mit Sprache um. Das von Rita Schaller liebevoll betreute Projekt ist angelehnt an Michael Endes "Ophelias Schattentheater": Fräulein Ophelia, die eine "große, gefeierte Schauspielerin" werden sollte und wollte, schafft es wegen zu leiser Stimme nur zur Souffleuse. Bald aber kennt sie alle berühmten Stücke der Weltdramatik. Als eines Tages ihr Theater eingespart wird, sitzt sie ohne Job einsam in ihrem Kasten. Plötzlich nimmt sie Schatten wahr. Schatten ohne Figuren. Herrenlos, also überflüssig, wie sie selbst. Und ohne zu zaudern nimmt sie einen nach dem anderen auf und gewährt ihnen Asyl. In der Handtasche ... Von nun an lernen die Schatten Texte aus "Faust", Kreuz und quer springen die agilen Damen auf der Bühne und in Goethes Lebenswerk umher, deklamieren mit Lust was das Zeug hält, versuchen sich gegenseitig zu überbieten. Vom Vorspiel auf dem Theater bis hin zum Sumpf, der zum Gebirge zieht.
Zwischendurch ein paar Stichwörter aus Schillers "Wilhelm Tell". Alles nach der Devise: "Lasst mich den Löwen auch spielen", Shakespeare. Als Fräulein Ophelia eines Tages obdachlos wird, ist sie am Ende. Die Schatten revanchieren sich für die einst gewährte Hilfe – sie erfinden das Schattentheater für sie. Ein weißes Tuch über der Teppichstange, und hinter dem Tuch spielen sie das erlernte Repertoire. Zur Freude der Kinder am Nachmittag, der Erwachsenen am Abend. Ophelia kommt schnell wieder auf die Beine, sie muss soufflieren. Und bald wird sie nun doch noch berühmt, mit "Ophelias Schattentheater". Nach irgendeiner Abendvorstellung fragt ein Schatten, den Ophelia nicht kennt, ob sie ihn wohl auch aufnehmen würde. Es ist der Tod. Nach einer langen Pause, ganz schlicht, fast gütig-verschmitzt antwortet sie: "Ja, komm nur ..." Was für eine wunderbare Szene. Der schwärzeste aller Schatten weist Fräulein Ophelia den Weg in den Himmel. Und wie am Anfang träumen die Seniorinnen einzeln oder im Chor, dass sie alle vor den Engeln, vielleicht sogar vor Gott, Theater spielen werden. Die Geschichte der Menschen "in der großen Sprache der Dichter". Und vielleicht werden ja auch einmal ein paar Senioren hinzukommen. Die Jury des Sächsischen Amateurtheaterpreises 2014 war sich schnell einig, der Gruppe Senior ist eine wundervolle Aufführung gelungen. Eine Liebeserklärung an das Theater, eine Liebeserklärung an das Leben.
Herzlichen Glückwunsch zur "Lobenden Anerkennung 2014".
Prof. Bern Guhr, Leipzig, Oktober 2015